kurze Texte

Kurze Texte ...
Nein sie sind nicht von mir, so gut kann ich leider nicht schreiben -.-"
Diese Texte sind trotzdem wirklich lohnenswert. Also lest euch
wenigstens ein paar von ihnen durch. Sie regen meiner Meinung nach
zum Andenken an und stellen vieles in einer neuen Sichtweise dar.
 
1.
Der kleine Tag
von Wolfram Eicke

Es war einmal ein kleiner Tag. Er lebte mit seinen Eltern und Geschwistern dort, wo alle Tage leben, bevor sie auf die Erde kommen, und wo sie auch nachher bleiben, wenn die Nächte sie wieder von der Erde verscheucht haben. Kein Mensch weiß, wo dieser Ort ist, denn wer könnte schon sagen, wo die Tage bleiben, wenn sie ihren Dienst erfüllt haben? Jeder von ihnen kommt nur ein einziges Mal auf die Erde. Ein Tag ist einmalig. Und so ist es natürlich der Höhepunkt im Leben eines Tages, wenn er auf die Welt zu den Menschen kommt. Unser kleiner Tag, von dem hier die Rede ist, war voller Aufregung und Freude, wenn er an den so wichtigen Zeitpunkt seiner Erdenreise dachte. Aber er mußte noch lange warten, denn er würde der 22. November eines ganz bestimmten Jahres sein, und es war erst Septmber im Jahr davor. Vordrängeln konnte er sich nicht, denn die Reihenfolge, in der die Tage die Welt betreten, ist streng festgelegt. So konnte der kleine Tag nur von seinem zukünftigen Erdengang träumen, und mit staunenden Augen hörte er zu, wenn seine Verwandten von ihrem Besuch auf der Erde erzählten. Sein Vater war ein sehr berühmter und gefürchteter Tag gewesen, an dem sich ein grauenhaftes Erdbeben ereignet hatte, das die Menschen noch Jahrzehnte später nicht vergessen konnten. "Die ganze Welt zitterte", erzählte sein Vater stolz, "und ich bin in allen Geschichtsbüchern erwähnt." Seine Mutter wurde von den anderen Tagen ebenfalls sehr respektvoll behandelt. Als sie Tag war, hatten zwei Völker nach einem langen Krieg endlich Frieden geschlossen. Immer wieder wollte der kleine Tag hören, wie sich damals die Menschen lachend und weinend vor Freude umarmten undwie schön dieser Tag gewesen sei. Ein Onkel war sehr stolz darauf, daß er die erste Landung eines Raumschiffes auf einem fernen Planeten gebracht hatte, und seine Großmutter konnte gar nicht genug von der Hochzeit eines Königspaares erzählen, die mit großer Pracht gefeiert wurde, als sie Tag war. Jeden Abend, wenn ein Tag von der Erde zurückkam, mußte er genau berichten, was sich während seiner Amtszeit ereignet hatte. Voller Begeisterung hörte der kleine Tag Erzählungen von ruhmreichen Taten, Erfindungen und großen Festen, aber auch von Schneekatastrophen, Dürre- und Hungerzeiten, von Flugzeugabstürzen, Explosionen und Gewalttaten. "Es ist ganz wichtig", sagte sein Vater eines Tages, "daß etwas Ungewöhnliches passiert, wenn Du auf der Erde bist, damit man sich an dich erinnert. Sonst ist dein ganzes Leben sinnlos. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob es etwas Gutes oder Böses geschieht. Hauptsache, du hinterläßt einen bleibenden Eindruck auf die Menschen." "Wenn ich einmal auf der Erde bin," dachte der kleine Tag, "dann wird sicherlich etwas ganz, ganz Großes geschehen, etwas, was es noch nie gegeben hat. Nicht nur ein kümmerliches Erdbeben oder die Hochzeit eines Königspaares. Nein, 100 Könige sollen gleichzeitig heiraten, alle Völker der Erde sollen Frieden schließen und versprechen, niemals wieder Krieg zu führen. Es wird ein gewaltiges Feuerwerk geben, weil die Menschen alle Waffen in die Luft sprengen werden. Auf jedem Stern im Weltall landet ein Raumschiff, eine riesige Flutwelle überschwemmt die Hälfte der Erde, und, und ,und..." So träumte der Kleine Tag unaufhörlich, und es fiel ihm immer schwerer, seinen großen Auftritt abzuwarten. Schließlich, nach scheinbar endlosen Monaten und Wochen des Wartens, war der große Augenblick gekommen. Es war stockfinster, als der Vater den kleinen Tag rief: "Es ist soweit. In einer halben Stunde beginnt der 22. November. Gleich bist Du ein Tag auf der Erde!" Sein Vater begleitete ihn noch ein Stück, damit er den richtigen Weg fand, und dann war es soweit! Schrittweise zog sich die Nacht vor dem kleinen Tag zurück, bis sie ganz verschwunden war. Der kleine Tag jubelte: "Jetzt regiere ich die Welt!" Aber schon bald erlebte er die erste Enttäuschung. Die strahlend goldene Sonne. von der sein Vetter im Juli so geschwärmt hatte, war nirgends zu sehen. Grauer Nebel verhüllte die frühen Morgenstunden. Alles sah trübe und dunstig aus, feucht und kalt. Der kleine Tag wollte sich aber nichts daraus machen, es gab doch soviel Neues, Fremdes und Aufregendes zu sehen. In allen Städten wälzten sich Tausende von Menschen durch die Straßen zu ihrer Arbeitsstelle. Autokolonnen, Busse, Züge, Bahnen - alles drängte, schob und wimmelte. Der kleine Tag mußte lachen: Es sah zu lustig aus, wie sie da unten alle in verschiedenen Richtungen durcheinanderkrabbelten. Er betrachtete die Menschen genauer. Nein, freundlich sahen sie nicht aus! Die meisten hasteten mürrisch und lustlos durch die Straßen, hatten die Mantelkragen hochgeschlagen und sahen grimmig geradeaus oder zum Boden. Niemand schien den kleinen Tag zu beachten. "Hallo, hier bin ich!" rief er. "Ich bin heute euer Tag! Freut ihr euch nicht, mich zu sehen?" Aber die Menschen freuten sich nicht. "Was für ein lausiger Tag", sagte ein Mann zu seinem Arbeitskollegen. "Dieser widerliche Nieselregen geht mir ganz schön auf die Nerven." "Ja, abscheulich", bestätigte der andere. "Meine Frau bekommt sicher wieder die Grippe bei diesem Wetter. Wenn doch bloß die Sonne ein wenig scheinen würde!" Ja, die Sonne! Wo war sie? Der kleine Tag konnte sie nirgendwo entdecken. "Bitte, liebe Sonne", rief er, "komm doch hervor und mache die Welt an meinem Tag etwas schöner, damit die Menschen nicht alle so grimmig sind." "Das kann ich nicht", sagte die Sonne, die von einer graufetten Regenwolke verdeckt wurde. "Ich habe nicht mehr die Kraft dazu.

Komm im Frühling oder besser noch im Sommer wieder, dann will ich so scheinen, daß deine Augen geblendet werden. Aber im November bin ich dazu zu schwach." Der kleine Tag war ganz verzweifelt. "Aber ich bin doch nur heute!" rief er. "Ich kann doch nicht wiederkommen. Nie kann ich wiederkommen. Im Frühling und im Sommer sind die anderen dran. Bitte, liebe Sonne, schein doch wenigstens ein ganz kleines bißchen!" Die Sonne hatte Mitleid mit ihm. Mit aller Kraft preßte sie ein paar dünne Strahlen hervor. Der kleine Tag hatte so etwas noch nie gesehen. Er sah verzückt und verzaubert, wie die Sonnenstrahlen auf einen Waldweg fielen und sich das Licht in den Regentropfen spiegelte. "Hurra!" rief der kleine Tag, "freut ihr euch jetzt, daß ich hier bin?" Doch die Sonne hatte zu kurz geschienen. Kaum ein Mensch in der Stadt hatte die wenigen Sonnenstrahlen bemerkt, und jetzt war es wieder so grau wie zuvor. Allerdings regnete es nicht mehr, und der Nebel hatte sich aufgelöst. "Immerhin etwas", tröstete sich der kleine Tag. Aber ein wenig traurig war er trotzdem noch. Doch was war das? Auf einem Schulhof stand ein Junge mit einem funkelnagelneuen Fahrrad, umringt von seinen Klassenkameraden. "Woher hast Du denn das tolle Rad?" fragte einer von ihnen. "Na, wißt ihr denn nicht, was heute für ein Tag ist? Heute ist doch der 22. November, und das ist mein Geburtstagsgeschenk!" Der kleine Tag jauchzte. Endlich freute sich jemand über ihn. "Für diesen Jungen bin ich der Höhepunkt des ganzen Jahres", dachte der kleine Tag glücklich. Mit neuem Eifer schaute er sich auf der Welt um. Er sah das Meer! Die Wellen klatschten gegen die Felsen am Strand, und die Gischt sprühte schäumend auf. Es war ein wundervolles Schauspiel, von dem sich der kleine Tag kaum losreißen konnte. Sein Blick streifte über die Berge. Ein Bergsteiger mühte sich keuchend, einen schneebedeckten Gipfel zu bezwingen. Als er oben angekommen war, lachte er und genoß den weiten Blick ins Tal. Der kleine Tag freute sich mit ihm. Er sah viele Städte, und verwundert schaute er den Menschen zu. Offenbar hatten die meisten nicht viel Freude an ihrer Arbeit. Männer mit stumpfen Gesichtern betätigten Hebel, Knöpfe und Schalter. Sie stellten Gegenstände her, deren Sinn und Zweck der kleine Tag nicht verstand. In einer großen Halle standen lange Schlangen wartender Menschen. Sicher gab es dort etwas Besonderes! Aber nein: Wenn die Menschen schließlich einen Schalter erreicht hatten, hinter dem ein streng blickender Mann saß, mußten sie viele Kreuze in kleine Kästchen auf Papierbögen machen und auch noch Geld dafür bezahlen. Der kleine Tag wunderte sich. In einem Park saß ein Mann auf einer Bank und schrieb. Als er fertig war, sah er sich zufrieden lächelnd um. Er hatte bestimmt etwas schönes geschrieben. Der kleine Tag freute sich. In einem Fenster stand ein Musiker und pfiff fröhlich eine kleine neukomponierte Melodie vor sich hin. Der kleine Tag hätte am liebsten mitgepfiffen. Der Nachmittag brachte ihm neue Erfahrungen: Spielende Kinder, Leute beim Spazierengehen, Menschen, die sich zum gemütlichen Kaffeetrinken zusammenfanden. Er sah einen jungen Mann an einer Haustür klingeln und ein hübsches Mädchen herauskommen. Die beiden faßten sich an den Händen und gingen in einen Park. Auf der Brücke über einen kleinen Bach blieb der junge Mann stehen und sah dem Mädchen in die Augen. "Ich hab' dich lieb!" sagte er und gab ihr einen Kuß. Dem kleinen Tag wurde ganz heiß vor Freude. Das war sicher das allerschönste Erlebnis für ihn hier auf der Erde. Als die Dämmerung kam und der kleine Tag seine Aufgabe erfüllt hatte, eilte er aufgeregt nach Hause. Alle Tage hatten sich schon versammelt und erwarteten gespannt seinen Bericht. "Na, wie war's?" fragte ihn sein Vater, "bist Du ein guter Tag gewesen?" "Oh ja!" rief der kleine Tag, und alle seine Erlebnisse sprudelten wie ein Wasserfall aus ihm heraus. "...und dann haben sie sich geküßt!" rief er am Schluß seines Berichts ganz atemlos und sah sich erwartungsvoll in der Runde um. Sein Vater machte nur eine wegwerfende Handbewegung: "Na ja, das kennen wir ja alle, aber nun erzähl mal die interessanten Dinge. Was hat sich denn nun wirklich ereignet?" Der kleine Tag starrte ihn fassungslos an. "Aber..." stammelte er, "das ist alles. Das ist doch viel, oder?" In den hinteren Reihen begannen einige ältere Tage zu lachen. Schließlich lachten sie alle, die ganze Gesellschaft, bis der kleine Tag in einer riesigen Woge von Gelächter zu ertrinken drohte. "Was?" rief sein Vater aufgebracht, "es muß doch wenigstens etwas passiert sein! Ein Schiffsunglück vielleicht? Oder eine Flugzeugentführung? Wenigstens ein Banküberfall?" Der kleine Tag schüttelte den Kopf. Einsam und traurig stand er mitten in dem Gelächter. Sein schöner Tag! Und sie fanden ihn langweilig und alltäglich - nichts Außergewöhnliches war passiert war geschehen. Er hätte vor Scham versinken mögen. "Nicht mal ein..." begann sein Vater noch einmal, aber er fragte nicht weiter. Der kleine Tag tat ihm leid. "Ein Nichts bist du!" schrie der Onkel, der die Raumschifflandung auf dem fernen Planeten erlebt hatte, "ein Nichts! Schon morgen hat man dich auf der Erde vergessen! Kein Buch wird dich erwähnen, kein Mensch wird sich an Dich erinnern! Geburtstag! Sonne! Liebe! Daß ich nicht lache!" Ist Liebe denn nichts ungewöhnliches, Schönes? wollte der kleine Tag fragen - aber er traute sich nicht mehr. Er fürchtete die Hänseleien und den Spott der anderen. "Komm mit und ruh' dich aus", sagte der Vater und zog ihn fort. "Und ihr acht euch nicht über meinen Sohn lustig!" rief er giftig den versammelten Tagen zu. Die Mutter versuchte ihn zu trösten: "Sei nicht traurig. Du bist ein guter Tag gewesen und hast sehr schöne Dinge auf der Erde gesehen. Weißt du, es kommt gar nicht darauf an, daß möglichst viele Menschen sich an einen Tag erinnern. Wenn Du nur ganz wenigen eine Freude geschenkt hast, dann hat sich dein Erdendasein schon sehr gelohnt." Aber der kleine Tag war nicht zu trösten. In den kommenden Tagen und Wochen wurde er überall belacht und verspottet. Er nahm auch nicht mehr an den abendlichen Versammlungen teil. Er wollte nicht hören, was die anderen Tage zu berichten hatten. Einsam saß er in seiner Ecke und machte sich bittere Vorwürfe. Dabei war es doch gar nicht seine Schuld.

Eines Abends jedoch, viele einsame Tage, Monate später, riefen ihn seine Eltern: "Denk dir, einer deiner Neffen kam gerade von der Erde zurück und hat berichtet, daß heute ein Beschluß gefaßt wurde, den 22. November zum internationalen Feiertag zu erklären. Und weißt du, warum? Weil an deinem 22. November, als du auf der Erde warst, nichts Böses geschehen ist, kein Verbrechen verübt wurde, nirgendwo auf der Erde Kämpfe waren. Eben darum, weil nicht Ungutes passiert ist, soll von nun an jedes Jahr an deinem Tag das Fest des Friedens gefeiert werden. Heute stand es auf der Erde in allen Zeitungen. Ja, wir wußten doch immer, daß Du etwas taugst!" Der kleine Tag sagte gar nichts. Er strahlte.

aus: Wieviel Farben hat die Sehnsucht?
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Der Gesang des Wales

In ferner Vergangenheit, so weit zurück, daß nur noch spärliche Strahlen unserer Erinnerung jene Zeit erleuchten, lebte ein Volk an den Ufern eines gewaltigen Meeres. Die Menschen waren einfach und genügsam. Erde und Wasser gaben ihnen alles, was sie zum Leben brauchten. Zweimal im Jahr, immer kurz vor der Sonnenwende, fuhren die Jäger des Dorfes in kleinen Booten aus der Bucht ins offene Meer, um einen Wal zu jagen. Sie waren immer erfolgreich, denn der weite Ozean bot Platz für viele Wale. Danach feierten Alte und Junge gemeinsam das Fest der Sonnenwende am Ufer des Meeres und sangen ihre Dankeslieder hinaus in die endlose Weite des Meeres. So hätte es noch viele Jahre gehen können. Doch eines Tages kamen dickbäuchige Händler über das Land und sie boten den Jägern des Dorfes Gold und Pelze für das Fleisch und Fett der Wale. Gier glitzerte nun in den Augen der Männer. Sie bauten große Schiffe und lauerten das ganze Jahr im Meer vor der Bucht. Die Dankesgesänge für die Wale gerieten rasch in Vergessenheit. Bald konnten sich nur noch wenige Alte an die Zeit vor den großen Waljagden erinnern. Die Feste der Sonnenwende wurden zwar immer noch gefeiert, aber oftmals hatte sich in den Tagen zuvor das Wasser der Bucht rot gefärbt vom Blut der gemordeten Wale. An einem dieser Feste nun geschah es: Irgendwann in der Nacht - die Händler waren schon händereibend weitergezogen - wurde aus der schwarzen Weite des Ozeans eine tiefe, dunkle, geheimnisvolle Melodie vom Wind an die Feuerstellen getragen. Die Alten horchten auf und schüttelten sich den Schlaf aus den Haaren: "Der Wal singt wieder", murmelten sie bedeutungsvoll und starrten unsicher auf das nachtschwarz schimmernde Meer. "Die Alten spinnen mal wieder.", lallten die betrunkenen Jäger und wankten mit ihren Decken in die Zelte. Nur zwei der Jäger, Jorge und Amina, blieben bei den Alten zurück. Dieser wärmten sich am Feuer und erzählten die fast vergessenen Überlieferungen. Geheimnisvoll knackte und knisterte das Holz, während eine der zahnlos vor sich hinmurmelnden Greisinnen in die Flammen starrte und begann: "Vor vielen Generationen - so lange her, daß wir nicht mehr zählen können, wie oft der Mond sein Gesicht wechselte - lebten die Menschen und die Wale zusammen wie Brüder und Schwestern. Diesen Gesang, den ihr gerade gehört habt, konnten unsere Ahnen verstehen und mitsingen. Die Väter unserer Väter und deren Väter sprachen mit den Walen wie mit Menschen aus ihrem Volk. Unser Volk wurde von den Walen mit wilden Gesängen gewarnt, wenn Springfluten das Dorf bedrohten und mit traurigen, wenn die Winter hart und entbehrungsreich über Land und Meer fielen. Generation um Generation sangen sie ihre Lieder mit unserem Volk. Als die Händler kamen und die Jäger die Wale schlachteten, verstummte der Gesang. Heute hören wir ihn zum ersten Male wieder." Dann war es lange Zeit still an den Feuerstellen und die Alten schauten ein wenig betreten auf die Erde oder hinaus in die Endlosigkeit des Meeres. Schließlich hüstelte einer von ihnen verlegen, scharrte mit den Füßen einige kleine Steine zusammen und meinte dann: "Leider ist es so, daß wir die Sprache der Wale nicht mehr verstehen. Wir hören nur ehrfurchtsvoll den Gesang. Der Wal ist da und will uns etwas sagen - wir verstehen ihn aber nicht mehr." Jorges Blick verlor sich im verglimmenden Feuer und Aminas Stirnnarbe pochte vor Aufregung und leuchtete rot. Am nächsten Morgen fuhren die beiden Männer mit ihrem kleinen Boot hinaus in die Bucht. Die See wälzte sich grau wie flüssiges Blei und die Sonne versteckte sich noch auf de anderen Seite der Welt. Der frühmorgendliche Himmel hatte die Farbe frischgeschlagener Buttermilch, und Meer und Erde schwiegen. Am frühen Vormittag, die Sonne fand noch nicht die Kraft, den festgeknüpften Wolkenteppich zu durchdringen, waren die beiden auf dem offenem Meer. Langsam, doch gewaltig und voller Kraft, zogen die salzigen Wellen ihren ununterbrochenen Weg. Keine Möwe krächzte über ihnen, und ihr Dorf war nur noch als kleiner Punkt am diesigen Horizont zu erkennen. Jorge und Amina wußten nicht so recht, was sie jetzt tun sollten - sie waren aufgebrochen, um die Geschichte der Alten zu überprüfen, aber wie sollten sie jetzt den Wal rufen? Jorge versuchte es mit den wenigen überlieferten Liedern seines Volkes, die er noch kannte. Vielleicht würde der Wal sich erinnern und darauf antworten - aber das Meer blieb ruhig und rollte sich behäbig im leichten Wind. Amina griff zu seiner kleinen Flöte. Zögernd und vorsichtig legte sich ein feingesponnene Melodie auf die Wellen und ließ sich von diesen forttragen. Immer dichter und kräftiger wob Amina seine Töne, bis sie schließlich eins wurden mit dem Rhythmus des Meeres und dem Takt der Wellen. Amina hatte die Augen geschlossen, seine Stirnnarbe pochte und leuchtete, und auch er schien sich mittragen zu lassen vom geheimnisvollen Miteinander seiner Melodie und der Kraft der Wellen. Und plötzlich hörten die beiden aus der dunklen Tiefe eine Antwort. Töne trieben zu ihnen empor, stiegen über das Wasser und verknüpften sich mit Aminas Musik. Es war nichts Fremdes in dieser Musik, nichts Gefährliches oder Bedrohliches. Nein, im Gegenteil, die kleinen Gischt- kronen der Wellen tanzten zu dieser Rhythmus wie Kinder in einem fröhlichen Sommerregen. Und dann brach die Oberfläche des Meeres entzwei. Es schien, als würde sich die Erde teilen. Der Wal war da. Und es gab nichts außer ihm, was von Bedeutung gewesen wäre. Der Wind verstummte und die Wellen standen still in der Zeit. Amina hielt die Flöte in den Händen, seine Stirnnarbe pochte und klopfte vor Aufregung und Freude. Der Gesang des Wales legte sich wie ein schweres, warmes Tuch über das Boot, die beiden Männer und das Meer. Die Melodie brach in Jorge und Amina ein und wischte alles weg, was vorher dagewesen war. Nichts existierte außer diesem Gesang. Nichts hatte mehr Bedeutung und nichts würde nach diesem Moment wieder so sein wie zuvor. Der Wal kam langsam näher, und das Boot wirkte klein und zerbrechlich neben diesem gewaltigem Kopf, der sich fast zärtlich am Bootsrand rieb. Das Auge des Wales war jetzt auf ihrer Höhe. Der Gesang verstummte. Lange Zeit lag der Meeresriese so neben ihnen und sein Blick leuchtete jeden noch so geheimen Winkel der beiden Menschen aus. Und dann begann er wieder zu singen. Die Melodie strömte aus dem Innersten des riesigen Körpers. Die zwei Jäger in dem Boot verstanden den Wal. Jeder Ton öffnete ihr Herz ein wenig mehr. Der Wal sang ihnen die Geschichte seines Volkes und berichtete von dem grauenvollen Morden und blutigem Gemetzel. In ihm waren die Todesmelodien seiner Freunde, Brüder und Schwestern. Aber auch die hoffnungsvollen Gesänge der Überlebenden sowie die eigene Zuversicht. Jorge und Amina verstanden alles. Sie weinten mit dem Wal, wenn dieser trauerte und freuten sich mit ihm, wenn seine Flosse sich gewaltig aus den Fluten hob. Schon längst hatte die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten, und im Westen färbte sich das undurchsichtige Zinn des Meeres langsam schimmernd rot wie gehämmertes, noch heißes Kupfer. Der Wal hatte seinen Gesang beendet und lag still neben dem Boot. Dann richtete er sich mit einem sanften Ruck hoch aus dem Meer und beugte sich nach vorne. Die gewaltige Schwanzflosse schien den Himmel auszulöschen. Ohne das Meer aufzuwühlen, verschwand er in der Tiefe. Aminas Stirnnarbe pulsierte in einem stillen Rot. Er nahm die Flöte - und während Jorge zurück ins Dorf ruderte, spielte er dem Wal die Melodie seines Verstehens. Es war Nacht, als die beiden ihr Boot an den Strand des Dorfes zogen. Der Mond strich mit silberner Hand über die Wellen, und die Hunde bellten erfreut die beiden Heimkehrer an. Das ganze Dorf: Männer, Frauen., Kinder, Alte und Junge - alle saßen um ein großes Feuer. Es war wie beim Fest der Sonnenwende. Und doch: etwas war anders. Niemand sprach ein Wort. Erst als Jorge und Amina sich ans Feuer setzten, sprach sie einer der Alten an: "Der Wal hat den ganzen Tag gesungen. Das gab es noch nie. Was habt ihr erlebt?" Die beiden berichteten so gut sie konnten, und die Menschen hörten gebannt zu. Die Alten nickten bedächtig. Die jungen Jäger schüttelten die Köpfe und manchmal kicherten sie ein wenig. Als Jorge und Amina verstummten, regte sich lange nichts. Die meisten Dorfbewohner saßen einfach nur da und schauten gedankenverloren ins Feuer. Schließlich richtete sich einer der Alten ein wenig auf: "Ihr habt die Geschichten und Mythen unserer Ahnen wieder gefunden. Dafür sei euch Dank. Nun aber liegt es an uns, sie zu verstehen, zu bewahren und weiter zu verbreiten." Ein junger Jäger erhob sich: "Unsinn ist das", begann er wütend. "alte Geschichten! Mythen! Warum habt ihr ihn nicht getötet? Die Händler hätten uns gut dafür bezahlt!" Eine schlohweiße Alte richtete sich mühsam auf und deutete mit einem knochigen Finger auf ihn: "Wie kannst du es wagen, ein Geschöpf zu töten, das viele Generationen älter ist als du und mehr Wissen von der Welt hat, als du jemals haben wirst?" Wieder sprang der Jäger auf und schüttelte seine Harpune: "Ich jage es, weil ich einen guten Preis dafür bekomme! Und habt ihr Alten nicht auch schon immer Wale getötet?" Die Greisin sah den Jäger mitleidig an: "Ja", sagte sie dann und setzte sich achselzuckend wieder ans Feuer, "auch wir haben Wale getötet, aber nicht, um sie zu verkaufen, sondern um Nahrung für den Winter zu haben." Aminas Narbe auf der Stirn war angeschwollen vor Wut: "Wenn du bei uns im Boot gewesen wärst und den Gesang des Wales gehört hättest, dann würdest du jetzt auch verstehen!" - "Blödsinn", murmelte der Jäger, senkte dann aber den Kopf und setzte sich wieder hin. "Fahr morgen mit uns hinaus", fuhr Amina fort, "ihr alle, die es nicht glaubt. Kommt morgen mit - vielleicht könnt ihr dann verstehen." Noch lange saßen in dieser Nacht Männer und Frauen, Alte und Junge am Feuerplatz des Dorfes und sprachen aufgeregt miteinander. Früh am nächsten Morgen versammelten sich die Dorfbewohner am Strand bei den Boote. Fast alle fuhren mit hinaus aufs offene Meer. Wie am Tag zuvor spielte Amina auf der Flöte und wieder teilte sich das Meer und die Welt stand still, als der Wal erschien. Er lag da, sah die Menschen in ihren Booten, und sein Gesang war mächtig und stark. Noch während er sang, teilte sich hinter ihm das Meer und wieder und wieder. Hunderte von Walen brachen die Wellen du das Meer tobte und schäumte. "Ein ganzes Rudel Wale!" schreien die jungen Jäger. "Schaut sie euch an ! Schnell, die Harpunen! Los Männer! Rudert! Rudert! " Entsetzt legte Amina die Flöte zur Seite. Die Narbe an seiner Stirn war blutleer und glänzte wie ein kalter Wintermond. "Nein!" brüllte er. Und nochmals: "Nein! Das könnt ihr nicht tun! Das dürft ihr nicht tun!" "Sei ruhig, du Spinner!" lachten die Jäger zurück. "Die Händler warten schon auf dieses Fleisch und Fett!" Mit wilder Anstrengung tauchten die Ruder der Jäger ins Wasser und trieben das Boot auf den großen Wal zu. Am Bug stand der junge Jäger, die Harpune in seinen Händen glänzte gefährlich. "Schnell, Jorge!" Amina griff nach den Rudern "Wir müssen ihnen den Weg abschneiden!" Hastig brachten die beiden ihr Boot zwischen den Wal und die Jäger. Aber sie waren nicht schnell genug. Wie eine Feder hatte sich der Jäger nach hinten gebogen. Die Harpune schien auf die Sonne zu zielen, dann schnellt e der Jäger nach vorne und mit aller Kraft schleuderte er die Waffe auf den wal. Zischend und züngelnd folgte der Harpune das dicke Seil. Mit einem dumpfen Klatschen bohrte sich das geschmiedete Eisen in den mächtigen grauen Rücken des Wales. Ein entsetzlicher Ton dröhnte dumpf aus dem Leib des Wales und bohrte sich in Aminas Herz. "Ich hab ihn!" schrie der Jäger. Gier glitzerte in seinen Augen. "Leute, ich hab ihn. Laßt das Seil laufen, er wird uns nicht mehr entkommen!" Das Wasser begann sich rot zu färben. Die Schreie des Wales stiegen mit einer blutigen Wasserfontäne in die Luft. "Das Seil!" Amina warf die Ruder weg. !Ich muß das Seil zerschneiden. Sonst werden sie ihn töten." Sein langes Messer zwischen den Zähnen, sprang er ins kalte Wasser und schwamm zu dem gespannten Seil zwischen den flüchtenden Wal und dem Boot der Jäger. Mit einer Hand klammerte er sich krampfhaft an das dicke Tau und während er immer wieder unter die Wellen gezogen wurde, zerschnitt er Strick um Strick das Seil, an dem der Wal gefangen war. Die Jäger brüllten vor Wut, und drohten mit geballten Fäusten. Aber keiner wagte, noch eine Harpune zu werfen, aus Angst, Amina zu treffen. Endlich hatte dieser den letzten Strick durchschnitten und der Wal schoß befreit hinaus in die Weite des Meeres. Amina hing erschöpft am Tau, und der Wal zog ihn hinter sich her. Jorge stand in seinem kleinen Boot, die Flöte Aminas in der Hand und weinte. Die Jäger waren verstummt und ihre Boot trieben kraftlos im aufgewühlten Wasser. Es war schon fast Nacht, als sie Jorges Boot in Schlepptau nahmen und zurück ruderten. Jorge saß die ganze Fahrt über teilnahmslos da und starrte hinaus auf das Meer. Die Zeit läßt sich nicht aufhalten. Das Leben im Dorf ging weiter. Die Tage wurden kürzer, die Kraft der Sonne verschwand und ein langer dunkler Winter legte sich über das Dorf,. Das Land und das Meer. Jorge war ein anderer geworden. Oft saß er stundenlang unten bei den Booten, die der Winter mit einem dicken Eismantel umhüllt hatte. Die Bucht lag schweigend und erstarrt, und der trübe, schneeschwere Himmel verdeckte den Blick aufs offene Meer. Dann endlich kehrte die Sonne mit neuer Kraft zurück. Das trockene Eis der kleinen Bäche barst, und die Bucht schälte sich langsam aus dem dicken Panzer des Winters. Die ersten Blumenknospen drängten sich vorwitzig aus der inzwischen dünnen Schneedecke, und die Vögel kamen von langer Reise, um ihre Nester zu bauen. Jeden Tag fuhr Jorge mit seinem kleinen Boot aus der Bucht ins offene Meer. Dort legte er die Ruder ins Boot, ließ sich treiben und spielte auf der Flöte Aminas. Erst spät am Abend kehrte er ins Dorf zurück und setzte sich zu den anderen ans Feuer. Diese sahen ihn erwartungsvoll an, aber Jorge sprach kein Wort. Einige Zeit vor dem Fest der Sonnenwende erlegten die Jäger einen Wal, und das Dorf feierte den glücklichen fang. Am Sonnenwendfest standen Alte und Junge am Meer. Das große Feuer leuchtete und warf Schattenspiele auf die Wellen. Die Menschen sangen die alten Dankeslieder für die Wale. Still und aufmerksam horchten sie danach hinaus aufs Meer. Doch außer dem gleichmäßigen Murmeln de Wellen hörten sie nichts. Am nächsten Morgen fuhr Jorge, wie üblich, allein hinaus vor die Bucht. Er spielte Flöte, wie Amina sie gespielt hatte, und seine Töne füllten die Stille des Meers. Und als er einmal aufhörte, um eine kleine Pause zu machen, hörte er, wie tief unter ihm, seine Melodie fortgesetzt wurde. Es war ein dünner, zarter Gesang, den Jorge hörte. Anders als die machtvolle Stimme des alten Wales. Er griff wieder zur Flöte und spielte, wie er noch nie in seinem Leben gespielt hatte und wie er nie wieder danach spielen würde. Sein Herz und seine Seele zeichnete er in Tönen auf das Wasser und in den glasigen Himmel. Und dann kam eine Antwort, die er kannte. Das war die Melodie des alten Riesen, und sie war nahe, sehr nahe. Und wieder teilte sich das Wasser und die Welt. Und der Wal war da. Jorge setzte die Flöte ab, denn da war noch ein anderer Ton im Wasser: Jene dünne, zarte Musik, die er zuvor gehört hatte. Jorge schaute aufgeregt hinüber zu dem alten Wal, auf dessen Rücken eine dicke Narbe zu sehen war. Dieser rührte sich nicht. Doch dann sah Jorge neben der gewaltigen Schwanzflosse des mächtigen Alten eine Bewegung. Prustend und zischend blies dort ein anderer Wal eine kleine Fontäne in den Himmel. Plötzlich legte sich ein ungestüm fröhlicher Gesang über die Wellen und Jorge sah einen jungen Wal, der aufgeregt und wild auf ihn zu schwamm. Die Wellen spien Gischt und der junge Wal rollte sich in den Wellen und tobte durchs Meer, als er Jorge sah. Und Jorge sah den jungen Wal, und auf der Stirn des Wales pochte aufgeregt und freudig eine kleine Narbe zum Takt seiner Melodie.

aus: Wieviel Farben hat die Sehnsucht?
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Wahrheit ist unteilbar
von Roland Kübner

Die Erde dreht sich um die Sonne, und der Mond dreht zieht seine Bahn um die Erde. Die Sterne flüchten in die Weite des dunklen Alls, und für uns Menschen ist das Außergewöhnliche normal, und niemand verschwendet mehr einen Gedanken daran, wie alles kam.

Am Fuße einer sanft ansteigenden Bergkette war vor langer Zeit eine kleine Siedlung unterschiedlichster Menschen gewachsen. Das Leben war zwar nicht einfach, doch jeder hatte dort ein gutes Auskommen und niemand mußte hungern oder darben. Trotzdem war dieses Dorf ein ständiger Ort des Unfriedens. Keiner kam mit seinem Nachbarn aus. Ständig gab es Streit. Jeder glaubte sich im Recht, und natürlich wollte jeder seine Ansichten durchsetzen. Pflanzte einer der Bauern im Frühjahr Schößlinge junger bäume, war er sich sicher, daß dies genau das richtige für Bäume sei - und wehe, irgend jemand dachte anders darüber.

Wenn nun einer in den Bergen wertvolle Steine gefunden hatte, wollte er die Bewohner der Siedlung Abend für Abend im einzigen Kaffeehaus davon überzeugen, daß sie mit solchen Steinen ihr Lebensglück und sogar Reichtum für ihre Enkel und Urenkel finden würden - und wehe, einer der anderen wollte widersprechen. Kurierte einer der Bewohner eine kranke Kuh mit einer seltenen Pflanze, die er zufällig in einer Neumondnacht geschnitten hatte, gab es für diesen kein anderes Heilmittel mehr als eben diese Pflanze, geschnitten in einer Neumondnacht Sie stritten sich entsetzlich, wenn auch nur einer leise Zweifel zu äußern wagte.

Schließlich wurden der ständige Unfrieden und die immerwährenden Zankereien um Recht und Wahrheit allen zuviel.

Eines Abends, als sie nach langer Debatte wieder einmal zerstritten vor dem Kaffeehaus saßen, wandten sie sich an den blinden Alten, der an einem Nebentisch schmunzelt süßen Kaffee schlürfte. "Weißt du Alter", begannen sie ein wenig ärgerlich, weil der Blinde immer noch lächelte, "wir finden das gar nicht komisch, Die meiste zeit, in der wir hier zusammensitzen, streiten wir, wer von uns nun Recht hat und wirklich die Wahrheit sagt. Und du sitzt hier und lachst. Was freut sich denn an unserem Streit?"
Der Blinde drehte den Kopf ein wenig: "Ich lache über euch, weil ihr alle zusammen wie unwissende Kinder seid!"
Die Männer wurden wütend: "Dann sag doch du, wer von uns im Recht und was wirklich wahr ist!" schrien sie den Blinden an.

"Ihr braucht nicht so zu brüllen, daß die Fenster klirren. Ich sehe zwar nichts mehr, dafür höre ich aber um so besser. Wahrheit ist überall dort, wo wahrhaftige Menschen sind. Aber ich weiß, ihr könnt das nicht verstehen. Kommt heute in einer Woche wieder hierher, dann werde ich euch zeigen, was Wahrheit ist." Daraufhin drehte sich der Alte wieder weg, führte seine Tasse an den Mund und sagte auch auf das Drängen der Leute nichts mehr.

Am Abend jedoch gab er seinem Enkel einige Anweisungen, und dieser machte sich früh am nächsten Morgen auf den Weg in die Stadt. Zwei Tage später kehrte er zurück und berichtete seinem Großvater, der wie gewohnt unter dem großen Baum vor dem Kaffeehaus saß, daß alles wunschgemäß erledigt sei.
Die Tage verstrichen träge, wie süßer Honig, zähflüssig vom Zucker der Bienen. Die Siedlungsbewohner stritten wie gewohnt und konnten es kaum erwarten, bis die Woche vorbei war. Endlich war es soweit. Man versammelte sich wieder vor dem Kaffeehaus. "Was also ist die einzige und wirkliche Wahrheit? Wer von uns ist im Recht?" bestürmten sie den blinden Alten. Dieser lächelte versonnen und tastete mit der Hand versonnen und tastete mit der Hand nach dem Arm seines Enkels, der hinter ihm wartete. "Kommt mit ins Haus", sagte der Junge, "mein Großvater wird euch die Wahrheit lehren."

Im Kaffeehaus war es dunkel wie noch nie. Vor den Fenstern wölbten sich die Vorhänge im Wind. Nur eine kleine Kerze brannte, um den Männern den Weg zu weisen. Der Blinde stand mitten im Raum. Mit erhobener Hand bat er um Ruhe. "Wenn ihr hier zum Hinterausgang hinausgeht, werdet ihr in ein dunkles Zelt kommen. Darin befindet sich ein fremdartiges Tier. Es braucht die Dunkelheit, denn es scheut viele Berührungen bei Licht. Geht also alle hinein und lernt dieses Tier kennen. Sagt mir danach, wie es aussieht. Dann werde ich euch sagen, was Wahrheit ist." Zunächst standen die Männer ein wenig hilflos im Raum. Der Blinde war bekannt für seine komischen Ideen. Aber da sich keiner vor den anderen eine Blöße geben wollte, drängten sie schließlich alle in das dunkle Zelt. Als sie nach einiger Zeit, einer nach dem anderen, wieder vor dem Kaffeehaus erscheinen, saß der Alte still da und bewegte manchmal nur ein wenig den Kopf, um sich mehr der Sonne zuzuwenden. Als alle bei ihm standen, wandte er sich ihnen zu: "Nun, wie also sieht dieses fremde Tier aus?"

Ein Mann trat vor: "Ich habe es sehr genau befühlt. Das Tier ist wie eine große runde Säule. Es steht fest und unerschütterlich im Raum. Nichts und niemand kann es umstoßen." Ein anderer widersprach aufgeregt: "Blödsinn! Das fremde Tier ähnelt einem fächer. Ich habe es genau gespürt. Das Tier ist dünn und groß wie ein Stück Pergament, und es bewegt sich hin und her." Ein dritter mischte sich ein: "was erzählt ihr denn da? Das fremde Tier in dem Zelt ist in Wirklichkeit ein glattes, spitzes Lebewesen, fast wie polierter großer Säbel." Dann erklärte ein vierter alle anderen für Dummköpfe; das Tier sei in Wahrheit weich und biegsam, anschmiegsam und zärtlich. Ein fünfter wetterte gegen die anderen; denn seiner Ansicht nach glich das fremde Tier mehr einer großen Schlange, die am Ende so etwas Ähnliches wie einen Rasierpinsel hat.

Jeder behauptete etwas anderes, und in kürzester Zeit zankten die Männer unter dem großen Baum, wie sie noch nie in ihrem Leben miteinander gestritten hatten. Der blinde Alte saß zwischen den schreienden, keifenden, wütenden Menschen und rührte in seinem Kaffee. Endlich erhob er die Arme und bat um Ruhe. "Vor vielen Jahren, bevor die Blindheit meine Augen segnete - seither miß ich nämlich das elend dieser Siedlung nicht mehr mit ansehen -" begann er und lächelte dabei spöttisch, "war ich oft mit einem reichen Kaufmann in fernen Ländern unterwegs. Während dieser Reisen habe ich jenes Tier kennengelernt. Einmal bin ich sogar darauf geritten!"

Wütender Protest unterbrach den Blinden. "Wie, bitte, kann man auf einem Säbel reiten?" rief einer. "Oder auf einer Schlange mit einem Rasierpinsel am Ende?" lachte eine zweiter. "oder auf einer Säule" rief hämisch ein dritter.

Der Alte hob wieder die Hand. "Wollt ihr nun wissen, wer von euch recht hat und was Wahrheit ist?"

"Ja, ja", riefen die Männer aufgeregt, "das wollen wir wirklich gerne. Also laß deine Lügenmärchen und komm endlich zur Sache!" Der Alte wartete, bis alle still waren. Dann sagte er leise: " Ihr habt alle recht."

Wieder protestierten die Männer laut und aufgeregt: "Das kann nicht sein", sie waren sehr aufgebracht, "hast du nicht sogar einmal gesagt, die Wahrheit sei unteilbar?"

"Ja das habe ich tatsächlich gesagt", erwiderte der Alte ruhig. "Aber", und jetzt erhob er seine Stimme, "ich habe auch gesagt, wer die Wahrheit wissen will, muß selbst wahrhaftig sein! Ihr habt euch auf eure Finger Hände verlassen. Habt ihr keine Nase, keine Ohren und schmeckt ihr denn gar nichts? Könnt ihr so einfach auf eure Augen verzichten? Die Wahrheit ist wirklich unteilbar, nur ist sie manchmal zu groß, um von den Sinnen eines einzelnen Menschen erfaßt zu werden. Und ihr habt die Wahrheit aufgeteilt - und weil sie unteilbar ist, habt ihr alle recht!"

"Jetzt ist er völlig übergeschnappt", murmelten die Männer. "er hat zu lange in der Mittagssonne gesessen. Sie hat ihm das Hirn ausgetrocknet."

Dann belächelten sie ihn mitleidig und zürnten mit sich selbst, weil sie überhaupt auf die Idee gekommen waren, diesen Alten um Rat zu fragen. Langsam entfernten sie sich. Doch eine ungewohnt scharfe, spottende Stimme rief sie zurück: "ihr vergeßt schon wieder etwas, das ihr durch die unfaßbare Großzügigkeit der Natur geschenkt bekommen habt, obwohl ihr es wirklich nicht verdient. Wo habt ihr den euren Verstand gelassen? Wollt ihr nicht einmal nachprüfen, ob ich nicht doch recht habe?"

Etwas beschämt, drehten sich die Männer wieder um und kehrten zu dem Tisch des Alten zurück.

"Er hat recht", sprachen sie, "warum sollen wir uns das fremde Tier nicht einmal bei Tageslicht betrachten?" Auf ein Zeichen seines Großvaters verschwand der Enkel hinter dem Kaffeehaus, um das rätselhafte Tier zu holen. Plötzlich dröhnte es hinter dem Haus in wildem Klang: "Vielleicht ist das fremde Tier auch eine Trompete?" kicherte der blinde Alte. Dann zitterte die Erde unter schweren Schritten. "Oder ein kleines Erdbeben?" Der Alte schwankte gefährlich auf seinem Stuhl vor Lachen. Und führte sein Enkel das fremde Tier auf den Platz vor dem Kaffeehaus. Erschrocken wichen die Männer zurück. Sie sahen: Vier riesige, rauhe Säulen. Zwei glatte, polierte Säbel. Ein riesige Schlange mit einem Rasierpinsel am Ende. Zwei wehende Fächer wie aus Pergament. Und all die anderen dinge, die beschrieben hatten.

"Das ist ein Elefant", sagte der blinde alte in die betretene Stille, und vor lauter Lachen bekam er einen Schluckauf. "Nun hat einer von euch gelogen? Aber wer von euch hatte nun wirklich die Wahrheit gesagt? Wahrheit ist unteilbar - doch nur wahrhaftige Menschen werden sie in ihrer ganzen Größe erfahren."

aus: Wieviel Farben hat die Sehnsucht?
 
 

Rätsel für die Überaschung:

Fragen zum Text: der kleine Tag:

1.Wie oft kommt jeder Tag auf die Erde? Schreibe NUR die Zahl in Buchstaben auf deinen Zettel

2. In welchen Monat kommt er auf die Erde?Schreibe NUR den Monat

3.Sein Vater hatte ein Erdbeben gemacht. Er erzählte: __________________  Schreibe nicht was er als zweites erzählt hatte. Schreibe nur das erste wort von seiner Erzählung.

4.Sein Onkel hatte die..... Landung eines Rauschiffes eines Planeten gemacht. Setze die Lösung in die Punkte ein.

 

 

UND JETZT: 

nehmen wir die Lösungen und schreiben sie untereinander auf. die erste Zeile runter was steht da? Suche Überall nach einem Seiten Titel der genau dem entspricht!